Auszüge aus Theaterstücken »

Kann sein kann nicht

Ein Raum zum Ersticken. Berge von Zeitungen. Wäsche in Regalen bis zur Zimmerdecke. Hoch- und breitgewachsene Pflanzen am Fenster, die kaum Licht in den Raum lassen. Eine Matratze links, mit Stapeln von Decken darauf. Der Fernseher zwischen Wäscheständer, Kartons und Fenster. Ein nach oben offener Kleiderschrank mit Handtüchern, die sich bis zur Decke türmen.
An einer Wand ein kleiner Fleck, ein Tintenfleck. Könnte jedenfalls sein; muss aber nicht.
Stille.
Zeit.
Eine Katze steigt auf einen der Zeitungsberge.
Stille.
Zeit.
In der hinteren rechten Ecke des Zimmers ein Türrahmen, von dem aus man in den Flur sehen kann. Es ist sehr dunkel im Flur, so dunkel, dass man den Eingang eines Tunnels vermuten könnte, wenn man nicht wüsste, dass es sich um eine Wohnung handelt. Lediglich die Wohnungstür, auf der rechten Seite des Flures, hinter dem Türrahmen, ist teilweise zu erkennen.
Geräusche am Türschloss der Wohnungstür.
Die Katze verschwindet, um nie wieder aufzutauchen.
Die Tür wird geöffnet und wieder geschlossen.
Ein Mann steht im Türrahmen zum Raum. Er sieht sich den Raum an.
Stille.
Der Mann verschwindet im Flur.
Zeit.
Der Mann taucht wieder auf. Er sieht sich den Raum genauer an. Mit großer Überwindung geht er über Zeitungs- und Wäscheberge zur Matratze. Er setzt sich mühsam auf den Stapel Decken. Er sitzt unbeweglich, hoch, unbeweglich hoch.

Mann:
Warum ich? Um diese Zeit?

Geräusche am Türschloss. Ein weiterer Mann taucht auf. Er sieht sich den Raum an. Er bemerkt den Mann nicht, steigt über die Berge und verschwindet im Schrank.
Stille.
Zeit.
Der Mann hat den Schrankmann nicht wahrgenommen. Er sitzt sehr hoch.

Mann:
Um diese Zeit. Ich könnte längst im Bett liegen. Mit einem Buch über Geschichte. Oder einem Roman. Vielleicht auch bei einem Film, mit Chips und Likör. Ganz bei mir wäre ich dann. – Warum ich? Mit dieser Verantwortung ihn gekannt zu haben. Ich. Das verwirrt mich.

Kratzende, schabende Geräusche. Aus einem der Zeitungsberge taucht eine Frau auf. Sie sieht sich den Raum an. Sie bemerkt den Mann nicht. Diese-Frau geht zu einem Berg Zeitungen, greift hinein, liest, wirft weg, greift hinein, lacht, wirft weg, greift wieder hinein, wirft weg, rauft sich die Haare, greift hinein, wirft weg, weint, greift noch einmal in den Berg Zeitungen, liest, lacht. Der Berg implodiert und wirft eine Staubwolke auf.

Diese-Frau:
Ich verstehe ihn. Das konnte nicht gut gehen. Er war wie ich. Es ist immer das Gleiche. Sie lacht, sie weint. Aber er hat sich nicht annehmen können, wollen, dürfen, mögen, müssen – eventuell. Das war sein Fehler – vielleicht. Ich sehe ihn ganz klar vor mir: Er war ein Hindernis. Uh uh. Sie rauft sich die Haare. So einen Mann findet man nur einmal. Ich kenne keinen, der war wie er. Keinen. Wirklich keinen. Sie betet den Himmel an: Dass es ihm nur gut geht, ihm, der mich nicht wollte. Ihm! Ha ha. Hahha haha. Er! Wer war er schon! Er hat mir zugehört. Nie einen Ton gesagt. Gehört – geschwiegen – gehört. Ohne Verstand gehört. Ohne alles. Gerade er. Er – er, der mich als Einziger durchschaute. Durchschaute, haha. Da muss ich aber lachen. Sein Durchschauen war wie das Schweigen der Nacht – still und dunkel. Ich habe mich in ihm nicht zurechtgefunden. Und doch! Doch, doch. Mein Gefühl sagt mir: Er hat sich nicht angenommen. Aber wie er sich nicht traute sich anzunehmen, mit diesem ewigen Schweigen, das machte ihn einmalig – geheimnisvoll – das macht ihn… – ich kenne keinen, der war wie er.

Sie läuft in eine Wand und verschwindet.
Die Schranktür fliegt auf. Die Stimme Dieser-Frau spricht aus dem Schrank.

Diese-Frau:
Er hatte keine schwerwiegenden Fehler. Er nicht. Dass es ihm nur gut geht. Er war ein guter Mensch. Dass es ihm nur gut geht. Dass er endlich zu schweigen aufhört, oder den Mund hält für immer. Und, dass ich ihn nicht verliere – ihn nicht verliere – verliere, verliere…

Die Schranktür knarrt.
Der Mann hat Diese-Frau nicht bemerkt.
Auf dem Schrank schiebt sich ein neues Handtuch unter die anderen. Der Handtuchturm bebt leicht dabei.
Stille.
Zeit.

Mann:
Wie hat er gelebt? Langsam, schnell? Ich kenne ihn. Er war manchmal sehr schnell; er konnte sogar hektisch sein; aber andererseits war er auch sehr schwerfällig: Dann wirkte er, als kämpfe er um jeden Schritt, um jedes Stück Vorwärtskommen. Und dabei ist er so manches Mal hingefallen. Er ist nicht einzuordnen. Er hatte viel. Seiten hatte er, die kann ich jetzt aufschlagen – aber ich kann, kann sie nicht lesen. Es sind nicht meine Seiten. Er hatte zu viele. Ist nicht so einfach, einen anderen Menschen zu lesen. Er war in zu vielem verstrickt. Er konnte sich auch selbst wieder auf die Beine helfen. Manchmal konnte er es jedoch nicht. Kann auch sein, dass er sich klar sah, sich im Griff hatte. Kann alles sein. Ich kenne ihn zu gut. Deshalb ist er auch so schwer zu verstehen. Ich weiß noch, wie er mir einmal vor lauter Wut die Faust zeigte. Seine ganze Wut war in dieser Faust. Aber die Wut verging. Es dauerte zwar Tage; aber dann gab er mir wieder die Hand. Wer ist er? Er ist mir zu nah, als dass ich ihn einschätzen könnte. Mir fehlt der Abstand, um ihn zu sehen. Das ist alles. Denkt nach: Dann fehlt mir wirklich alles. Erschrocken: Dann fehlt mir alles! – Ich muss ihn doch wirklich einschätzen können. Alle fragen mich, wo er geblieben ist. Tag für Tag fragen mich das immer mehr Leute. Seitdem er fort ist, ist er zum Mysterium geworden.

Stille.
Zeit.
Der Mann sitzt unbeweglich hoch.
Aus vielen Stimmen entwickelt sich allmählich eine sanfte Unruhe.
..........
 
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